Das Chaos-Potenzial

„Wirklichkeit ist keine starre Realität, sie ist voller Möglichkeiten – und sie ist in uns. Sie kann von uns geändert und neu gestaltet werden.“
Hans-Peter Dürr (2011)

Ente oder Kaninchen? Sowohl-als-auch! Quelle: unbekannt

Es sind nicht nur Zeiten großer Ängste, die uns begegnen, seit Corona unser Leben bestimmt, sondern auch großer Konfusion. Neben der Ungewissheit über die Zukunft, herrschen derzeit auch sehr unterschiedliche Vorstellungen über die Realität der Gegenwart. Uns schwirrt der Kopf von Zahlen und Diagrammen. Einmal ist von Panikmache die Rede, dann wieder von Verantwortungslosigkeit. Überall melden sich Experten, die die wahre Wahrheit kennen. Und überhaupt haben Verschwörungstheorien Hochkonjunktur. Corona wurde in Laboren künstlich gezüchtet. Corona ist eine normale Grippewelle, die instrumentalisiert wird. Die Reichen und Mächtigen stecken dahinter. Die Medien bauschen auf. Die Medien verschweigen. Dann sehen wir die Bilder von übermüdeten und verzweifelten Ärzten und Krankenpflegern. Von überfüllten Krankenhäusern und vollen Leichenhallen. Von Kühltransportern die extra herangekarrt werden, um die vielen Särge zu lagern. Kann das noch alles inszeniert sein? Ist das dennoch die richtige Strategie? Rechtfertigt diese Krankheit die massive Einschränkung der Freiheit durch ordnungspolitischen Zwang? Darf Politik das Grundgesetz derart außer Kraft setzen? Neue Gesetze? Zentralisierung von Macht? Wo führt das hin und wo sind die Grenzen? Und dann ist da ja noch die leidende Wirtschaft. Die zerstörten Existenzen. Ist die Ökonomie nicht wichtiger, als die Gesundheit einiger alter und kranker Menschen? Dabei wird verschwiegen, dass der Kapitalismus schon immer über Leichen gegangen ist. Nur sind es dieses Mal die Leichen, die über einen Großteil des kapitalistischen Systems gehen. Karma? Oder stecken ganz andere Mächte dahinter? Vielleicht sogar Gott?

Auffallend ist, dass es in all diesen Fragen selten um das Virus selbst geht. Was ist dieses Virus überhaupt, woher kommt es und wie funktioniert es? Vielmehr geht es um die Gewinnung der Deutungshoheit über das Virus. Was bedeutet das Virus für uns und für die Gesellschaft? Ist es gefährlich oder nicht? Trennt es uns, oder verbindet es uns? Sind die Maßnahmen angemessen oder nicht? Ist es ein Sturm, der vorüberzieht oder ist es eine Katastrophe? Oder markiert es gar den Beginn einer neuen Weltordnung? Macht sie die Welt besser oder schlechter?

Die Wahrheit ist: Sowohl-als-auch!

Ich gebe zu, dass diese Antwort im ersten Moment weder befriedigend ist, noch die Verwirrung über die Welt mildert. Um sie zu erklären, helfen uns weder Statistiken noch medizinische Expertenmeinungen. Vielmehr müssen wir einen Abstecher in die faszinierende Welt der Quantenphysik unternehmen. Da ich keine Physikerin bin, sondern Soziologin, kann ich diese Dinge nicht physikalisch erklären, sondern beschreibe sie aus einem intuitiven Verständnis heraus. Alles andere würde uns hier wahrscheinlich langweilen und von der eigentlichen Essenz weg führen. Mir hilft dieses Verständnis bei der Reflektion über die Welt und gerade jetzt, in Zeiten von Corona. Deshalb möchte ich es mit euch teilen. Dabei orientiere ich mich in meinen Ausführungen auch an dem Buch des bereits verstorbenen Physikers Hans-Peter Dürr: „Warum es ums Ganze geht“.

 

Tot und lebendig

Spätestens seit der Serie „The Big Bang Theorie“ ist Schrödingers Katze auch außerhalb der Physik ein Begriff. Mit diesem Gedankenexperiment versuchte Erwin Schrödinger im Jahr 1935 die „Kopenhagener Deutung“ eines quantenmechanischen Phänomens zu erklären. Demnach kann ein Quantensystem mehrere Zustände gleichzeitig haben

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, welche sich wellenförmig überlagern. Dieses Phänomen nennt man in der Physik „Superposition“ oder Überlagenrungszustand. Auf das Gedankenexperiment übertragen bedeutet das für unsere Katze, die sich innerhalb einer geschlossenen Kiste mit Gift befindet, dass sie gleichzeitig tot und lebendig ist. Erst mit der „Messung“ – also dem Öffnen der Kiste und der Beobachtung der Katze – kollabiert das System der Überlagerung und nimmt einen der beiden möglichen Zustände an. Nach dieser Deutung ist ein bewusster Beobachter nötig, um den Zusammenbruch der Wellenfunktion hervorzurufen. Genau in dem Augenblick der Beobachtung entscheidet sich erst, ob sich das Objekt im Zustand A oder B befindet.

Demnach existiert die Welt stets, weil sie von jemandem beobachtet wird, der sie entsprechend seiner Beobachtung interpretiert. Dabei spielt das Bewusstsein eine entscheidende Rolle. Mit dem Spruch „Schönheit liegt im Auge des Betrachters“ lässt sich gut verdeutlichen, was damit gemeint ist. Je nach dem, was und wie wir die Dinge in der Welt wahrnehmen, manifestieren wir sie auch in der Welt. Das bedeutet, dass unser Bewusstsein, also der innere Zustand, den Zustand im Außen beeinflusst und kreiert. Es kommt nur darauf an, welche Bedeutung wir den Dingen verleihen. Realität wird auf diese Weise in jedem Augenblick neu erschafft.

Unsere Realität ist also nicht von vorne herein gegeben, sondern ist nur eine potentielle Möglichkeit aus einer unendlich großen Zahl an Möglichkeiten. Erst im Moment der Beobachtung, nimmt sie ihre konkrete Form an. Würde das bedeuten, dass wir die Welt von einem Moment zum nächsten radikal verändern könnten, wenn wir es wollten? Die Antwort lautet: Ja! Es gibt da nur ein Problem: Der Beobachter ist nicht isoliert von den Dingen, die er beobachtet. Wir stehen in ständiger und vielfältiger Wechselwirkung mit unserer Umgebung. In der Quantenphysik wird das mit dem Mechanismus der Dekohärenz beschrieben. Durch die Wechselwirkung mit der Umwelt liegen die möglichen Zustände eines Objekts nicht in einer kohärenten Überlagerung, sondern werden kontinuierlich beeinflusst. Das bedeutet, dass der Zustand, in dem sich die Welt dem Beobachter zeigt, nicht zufällig ist, sondern sich an dem orientiert, was vorher da war. Interessant dabei ist, dass mikroskopische Systeme den Zustand der Kohärenz viel länger aufrechterhalten können, als makroskopische Systeme. Sie fallen aufgrund ihrer Masse und ihrer Temperatur sehr schnell in die Dekohärenz. Einfach, weil sie anfälliger auf äußere Einflüsse reagieren.

 

Chaos und Ordnung

Bevor der Beobachter also die Welt erkennt, steht er mit dieser in Wechselwirkung, was wiederum den Erkenntnisprozess beeinflusst. Jede Erfahrung und jedes Erlebnis ist zunächst eine Beziehung, eine unaufgelöste Relation zwischen dem Beobachter und dem Beobachteten. Das Objekt, das ich sehe, ist letztlich nur das Ergebnis einer Abstraktion meiner Erfahrung mit ihr. Ist die Erfahrung konstant, lassen sich auch zuverlässige Prognosen über die Zukunft treffen. Das heißt, wir können mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit vorhersagen, was eine Katze ist und ob sie in der Kiste tot oder lebendig ist.

Jedoch lassen sich Entwicklungen niemals sicher vorhersagen. Es hat sich heraus gestellt, dass kleine Änderungen in der Ausgangssituation makroskopischer Systeme nicht zu entsprechend kleinen Abweichungen führen, sondern dass radikal andere Endzustände auftreten können. Kommen dann noch unbekannte Einflussgrößen hinzu, werden Prognosen und Wahrscheinlichkeiten sehr ungenau und die Zukunft ungewiss. Das System wird „chaotisch“ und wir tappen sprichwörtlich im Dunkeln.

Auf Makroebene werden Punkte der Instabilität von uns als unangenehm, ja oft zutiefst bedrohlich empfunden. Wir finden uns in einer Situation extremer Unsicherheit und Unberechenbarkeit wieder. Jedoch sind chaotische Systeme nichts Ungewöhnliches. Vielmehr sind sie ein normaler Teil der Natur und sogar dringend notwendig für Evolution. Wären nämlich alle Systeme statisch und stabil, gäbe es keinen Raum für die Entwicklung des Lebens. Deswegen muss auch unsere DNA zu einem gewissen Grad instabil und anfällig für Mutationen sein, damit sie sich an neue Umweltbedingungen anpassen kann. Auf dynamische Weise stabilisiert sich das Leben, indem es von einer Instabilität zur nächsten wechselt. Das Wesen des Lebendigseins gliedert sich in eine Dynamik ein, in der Offenheit mit Beständigkeit verbunden wird.

In der dynamischen Stabilisierung von Instabilitäten finden wir die Essenz der stetigen Entwicklung des Lebendigen auf unserer Erde.

 

Teil und Ganzheit

Wenn Wirklichkeit keine Realität im Sinne einer dinghaften Wirklichkeit ist, sondern sich primär als Potenzialität offenbart, als ein „Sowohl-als-auch“, dann ist sie nur eine Möglichkeit für die Realisierung. Potenzialität erscheint als das Eine, das sich nicht auftrennen und zerlegen lässt. Die Natur ist demnach in ihrem Grunde nur Verbundenheit, das Materielle stellt sich erst hinterher heraus. Die Welt ist also tatsächlich nicht einfach nur die Summe ihrer Teile, sondern sie ist eine Ganzheit, in denen die Teile nur in Verbindung existieren können.

„Wirklichkeit ist nicht dingliche Wirklichkeit, Wirklichkeit ist reine Verbundenheit oder Potenzialität. Wirklichkeit ist die Möglichkeit, sich unter gewissen Umständen als Materie und Energie zu manifestieren, aber nicht die Manifestation selbst. Diese fundamentale Verbundenheit führt dazu

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, dass die Welt eine Einheit ist. Es gibt streng genommen überhaupt keine Möglichkeit, die Welt in Teile aufzuteilen, weil alles mit allem zusammenhängt. Damit ist uns im Grunde die Basis entzogen, die Welt reduktionistisch verstehen zu wollen, also sie auseinanderzunehmen, nach ihren Bestandteilen zu fragen und diese dann in einer geeignet erscheinenden Form wieder zusammen zu kleben.“ (Dürr 2011, S. 103)

Das heißt, dass Objekt und Subjekt, Beobachtetes und Beobachter, Unbelebtes und Belebtes, nicht mehr grundsätzlich unterschiedlich sind, sondern sich in Abhängigkeit dynamisch in der Welt manifestiert. Die geistige Struktur des Menschen, sein Bewusstsein und sein Glaube, bildet eine Einheit mit der Materie. In der Welt gibt es nichts, was isoliert für sich allein steht, sondern alles ist Ausdruck eines kreativen, geistigen Prozesses. Du und Ich, wir sind manifestierter Geist und untrennbar miteinander verbunden. Unser individuelles Handeln beeinflusst auch wieder die gesamte gesellschaftliche Verfasstheit und verändert die sich ständig dynamisch wandelnde Potenzialität der lebendigen Wirklichkeit. Gleichzeitig sind wir untrennbarer Teil und Ausdruck der Natur.

„Wir müssen wieder sehen lernen, dass der Mensch ein nicht abtrennbarer Teil dieser Schöpfung ist, eine Vorstellung, die von jeher auch von allen religiösen Deutungssystemen geteilt wird. Die Welt kann nicht mehr als ein kompliziertes Zusammenwirken getrennter Teile betrachtet werden, sondern sie bildet im Grunde ein einziges, nicht zerlegbares Ganzes. Alles in der Welt – das Materielle wie das Lebendige – formiert sich nicht aus vielem Getrennten, sondern durch fortwährende Differenzierung des Einen. Das Leben beginnt also mit Gemeinsamkeit und entwickelt sich im Zusammenhang.“ (Dürr 2011, S. 168)

 

Bedrohung und Chance

Solange wir auf Erfahrungswerte zurückgreifen können, orientieren wir uns bei der Interpretation der Welt auf das, was vorher auch schon galt. Dabei ist unser Bewusstseinszustand nicht nur das Ergebnis einer äußeren, objektiven Welt, sondern zugleich auch ihr Schöpfer. Verändern sich die Umweltbedingungen, verschiebt sich auch die Wahrnehmung des Beobachters. Jeder kennt dieses Phänomen, wenn wir an einen unbekannten Ort kommen. Unvertraute Dinge nehmen wir vollkommen anders wahr, als jene, die wir kennen. Während sich die Objekte für die Einwohner dieses Ortes nicht sonderlich voneinander unterscheiden, kann derjenige, der sie zum ersten Mal betrachtet, etwas völlig anderes darin erkennen. Oft zeigt sich in diesem jungfräulichen Blick erst die Ästhetik oder eben die Scheußlichkeit eines Ortes oder Objekts. Doch dieser Blick verliert sich mit jeder Erfahrung, die ich mit dieser Umgebung habe.

Gesellschaftliche Krisen sind auch solche Momente, in denen sich die Dinge in einem neuen Licht zeigen. Sie verändern die Bedingungen auf vielfältige Weise. In denen die einen Dinge plötzlich ihre Bedeutung verlieren und die anderen eine neue Bedeutung gewinnen. Meist bewältigen wir die dadurch entstehende Unsicherheit

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, indem wir auf vertraute Handlungs- und Deutungsmuster zurückgreifen. Damit manifestieren wir aber das Alte im Neuen. Wir verpassen die Möglichkeit der Realisierung einer neuen Wirklichkeit.

Die Corona-Krise verändert die Bedingungen unserer Umwelt nicht nur tiefgreifend, sondern sie verläuft auch parallel für den größten Teil der Bevölkerung auf dieser Erde. Zwar stürzt sie nicht alle Menschen gleichsam in eine Sinnkrise. Dennoch spüren wir alle die Veränderung in irgendeiner, für uns bedeutsamen, Form. In diesem Moment zeigt sich die Vielfältigkeit der Möglichkeiten von Realität. Je nachdem, aus welcher Perspektive wir die Krise betrachten, können wir etwas anderes darin erkennen. Die große Konfusion, die derzeit herrscht, ist das Ergebnis eines Bedeutungswandels der Dinge in unserer Welt, deren Neuinterpretation erst kollektiv gefunden werden muss. Nicht einmal die Wissenschaft ist sich darüber einig. Wir können uns aber darüber einig sein, dass die Zukunft heute so offen ist, wie nie.

Krisen sind letztendlich auch nur Ausdruck einer geistigen Krise im Verhältnis von uns Menschen zu unserer lebendigen Welt. Die gegenwärtigen Krisen, ob Klima, Flüchtlinge, Wirtschaft, Politik und Demokratie, sind nicht unabhängig voneinander, sondern Teil einer tieferen Krise des menschlichen Bewusstseins. Schließlich ist auch das massenhafte Artensterben die Manifestation eines fehlenden Bewusstseins für die Vielfalt und die Lebendigkeit der Natur. Diese Geisteshaltung, die das Individuelle und den Eigennutz betont und gleichzeitig dem Leben feindlich gegenübersteht, schlägt uns nun durch die Corona-Krise mit voller Wucht entgegen.

Die derzeitige Verschiebung der Prioritäten von Selbstsorge nach Fürsorge, von Profit nach Gesundheit, von Individualismus nach Kollektivismus bzw. Solidarität, von Konkurrenz nach Kooperation und auch zu einem gewissen Grad von Freiheit nach Begrenzung,  ist eine Blaupause für die Manifestation einer neuen Wirklichkeit. Das Chaos, das die Corona-Krise verursacht, schafft den Raum für eine Neuinterpretation und Ordnung der Dinge in der Welt. Das Möglichkeitsfenster wurde weit geöffnet. Es kommt nur darauf an, wie ich darauf schaue und was ich daraus mache. Die Wahrscheinlichkeit, ob die Katze tot oder lebendig ist, lässt sich zum jetzigen Zeitpunkt nicht vorhersagen. Wir könnten es natürlich anderen überlassen, sie für tot oder lebendig zu erklären. Weil wir denken, dass wir darauf keinen Einfluss haben. Aber das ist ein Irrtum! Wir können sie auch selbst für tot erklären. Wenn wir die Krise als Bedrohung für unser Leben, unsere Freiheit und unsere Existenz betrachten, dann ist sie das mit Sicherheit auch.  Dadurch wird sie für große Teile der Bevölkerung zur realen Bedrohung und niemandem ist damit gedient, diese Bedrohung nicht auch ernst zu nehmen. Entscheiden wir uns aber auch dafür, die Katze gleichzeitig für lebendig zu erklären. Dann können wir sehen, dass in dieser Bedrohung auch eine große Chance steckt. Ich muss diese Chance nur erkennen und sie ergreifen. Aus diesem Bewusstsein heraus, können wir eine neue Realität nach unseren Wertvorstellungen erschaffen. Jeder einzelne von uns ist in jedem Moment dazu in der Lage. Wir brauchen uns nicht zu fürchten. Vielmehr sollten wir dem Gefühl der Verbundenheit und der Liebe in uns mehr vertrauen schenken und darauf hören. Denn das ist der Ausdruck des Ganzen in uns und jeder Einzelne wirkt auf dieses Ganze.  Das ist nicht nur eine spirituelle Gewissheit, sondern auch ein physikalisches Gesetz. Wir sind nicht nur gemeinsam stark, wir sind gemeinsam.

 

Quellen: http://www.quanten.de/schroedingers_katze.html

Dürr, Hans-Peter 2011: Warum es ums Ganze geht, Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main