Buchrezension: „Meine Arbeit“ von Olga Ravn, 2024 März Verlag
In ihrem neuen Roman nähert sich Olga Ravn dem Thema Mutterschaft in einer literarischen Weise, die völlig anders ist, als alles, was ich bisher gelesen habe. Darin wird die innere Zerrissenheit von Müttern durch wechselnde Erzählperspektiven deutlich. Ein ungewöhnliches Meisterinnenwerk.
Wie ein komplexes Jazz-Stück setzt sich die Geschichte aus verschieden literarischen Elementen zusammen, um schließlich zu einem großen Ganzen zu werden. Zugegeben wirkt das auf die Lesenden stellenweise etwas chaotisch. Etwas, das sich zuweilen auch im Leben von Müttern widerspiegelt. Zu Beginn erfahren wir, dass das Buch aus verschiedenen Aufzeichnungen, wie kurzen Notizen, Tagebucheinträgen und Gedichten einer jungen Mutter Namens Anna entstanden ist. Dabei wechseln sich die Perspektiven zwischen der Ich-Erzählerin und der Protagonistin Anna in einem nicht chronologischen Aufbau ab. Schließlich kommt es sogar zur Begegnung der beiden Figuren.
Anna hadert sehr mit ihrer neuen Rolle als Mutter. Angefangen mit einer komplizierten Schwangerschaft über eine lange, schmerzvolle Geburt und Unsicherheit dem Kind gegenüber, stürzt Anna in eine Phase der Depression, die vor allem von Angst und großer Einsamkeit geprägt ist. Ravn thematisiert darin auch das Verhältnis zum anderen Geschlecht, das durch die Erfahrung der Mutterschaft ein anderes wird:
„Was für eine furchtbare Sache, Mutter zu werden. Es ist wie aus einem süßen Traum zu erwachen, in dem Männer und Frauen gleich sind.“
Was mich persönlich besonders beim Lesen berührte, weil ich selbst Autorin und Mutter bin, ist die Zerrissenheit zwischen Kind und Kunst, die sich in den zwei literarischen Figuren widerspiegelt. Beide existieren und arbeiten. Aber in völlig verschiedenen Welten. Die eine ist die Mutter, die Arbeit ist privat, das Kind steht im Mittelunkt. Die andere ist die Schriftstellerin, die Arbeit ist öffentlich, die Kunst steht im Mittelpunkt. Durch Briefe und Anna`s Aufzeichnungen stehen die beiden zwar in Kontakt zueinander, können aber zunächst nur in verschiedenen Welten existieren. In dem Moment, als die Ich-Erzählerin schwanger wurde und ein Kind auf die Welt brachte, fiel sie aus der gewohnten Welt heraus und wurde zu jemand anderen:
„Als das Kind meinen Körper verließ, verwandelte sich die ganze Welt, kein einziges lebendes Objekt ließ sich aneignen wie zuvor. Unter den Objekten der Welt war es jetzt das Kind selbst, buchstäblich mein eigenes Fleisch, das zurückblickte. Die Verbindung zwischen der Welt und mir veränderte sich radikal. Alle Dinge in der Welt zeigten sich von einer anderen, tiefgreifenderen Seite, weil ein Teil meines eigenen Körpers mich verlassen hatte und in ihrer Mitte stand. Ich war nicht mehr dieselbe.“
Später schafft es die Ich-Erzählerin sich Freiräume für das Schreiben und ihre Kunst zu schaffen. Für kurze Zeit können sie und Anna sich tatsächlich in einer gemeinsamen Welt begegnen. Die schreibende Mutter ist ein Versuch zwei Frauen zu verbinden, die sich im Grunde fremd sind:
„Ist das Schreiben über Mutterschaft per se eine Art, Mutter zu sein? Ein Ort, an dem das Kind nicht und immer ist? Oder lasst es mich anders formulieren: Werde ich im Schreiben zur Mutter? (…) Seht ich schreibe. Ich schreibe wieder. Also muss sich etwas in mir verändert haben. Ist es eine Veränderung zum Besseren? Habe ich stärkere Muskeln? Ich sitze im schattigen Büro. Bald erreicht mich die Sonne durchs Fenster. Und die Sonne ist heiß und grell. Ich schreibe in der geliehenen Zeit der Mutter.“
Und doch bleibt die Angst der Ich-Erzählerin, durch Anna zu verschwinden. Schließlich erwartet sie ein zweites Kind. Aus der eigenen Erfahrung heraus wünscht man ihr, dass zumindest die Angst davor, einen Fehler zu machen, geringer wird – auch wenn sie nie ganz vergeht. Ein Roman, dessen Tiefe vielleicht tatsächlich nur Mütter verstehen.
Die dänische Autorin Olga Ravn arbeitet auch als Literaturkritikerin, Lektorin und Übersetzerin. Ihre Lyrikbände wurden vielfach ausgezeichnet. 2020 wurde sie für „Meine Arbeit“ mit dem renommierten Politiken-Literaturpreis ausgezeichnet. Zuletzt erschien ihr gefeierter Roman „Die Angestellten“ im MÄRZ Verlag.
Olga Ravn: Meine Arbeit
Übersetzung: Sitzmann, Alexander; Clara, Sondermann
März Verlag Berlin, 2024
459 Seiten, 29 Euro